Montag, 24. April 2017

In dubio pro libertate - Im Zweifel für die Freiheit

Was ist Freiheit?
Paul Valéry, ein 1871 geborener Lyriker, Philosoph und Essayist befand:

"Freiheit ist eines dieser abscheulichen Wörter, die nach mehr klingen als sie in Wirklichkeit aussagen, die mehr Bedeutung als Sinn haben."

Die Individualität ist die Freiheit des eigenen Ich, kann sich in der Wahl der gehörten Musik, des Kleidungsstils genauso manifestieren wie in der Meinung. Und auch die Meinung ist, so bestimmt es das Grundgesetz in Artikel 5, frei:

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

Das in Gesetze gegossene Wort ist zuweilen schwer zu verstehen, nicht nur deshalb lohnt ein genauer Blick auf die Zeilen des Artikel 5 GG.
Freiheit, die individuelle wie die der Meinung hat Grenzen. 
Zwar ist auch die eigene Freiheit und damit die Entfaltung der Persönlichkeit grundgesetzlich geschützt, in Artikel 2 nämlich. Jedoch gleichzeitig beschränkt:
Die eigene Freiheit endet dort, wo die eines anderen beginnt. Wollten wir uns von den verfassungsrechtlichen oder gesetzlichen Bestimmungen entfernen, so wären die grenzziehenden Orientierungspunkte wohl das Erkennen und Wahrnehmen der Bedürfnisse des Anderen und daraus resultierend Rücksichtnahme wie Wertschätzung. 

Einfache Grundpfeiler einer gesellschaftlichen Ordnung, auch zurückführbar auf den Ausspruch "Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch keinem anderen zu."
Im alltäglichen Umgang geraten diese einfachen Pfeiler manches Mal ins Wanken oder in eine Schieflage, weil das Ego sich selbst eine größere Freiheit ausbittet, als es sie dem Anderen zu gewähren bereit ist. 

Die Individualität und damit verbunden die Freiheit des eigenen Ich wird zuhauf durch Bestimmungen, Konventionen und nicht zuletzt Gesetze eingeschränkt, um eben ein gemeinsames Zusammenleben zu gewährleisten, in dem jedem Mitglied einer Gesellschaft ausreichend Raum für die eigene Entwicklung zugestanden wird, nicht aber auf Kosten eines Anderen.

Diese simple Wahrheit wird in der so genannten postfaktischen Zeit jedoch in Abrede gestellt. 
Das eigene Ich und damit verknüpfte Wollen wird wahrgenommen als etwas, das zu Unrecht eingeschränkt, ja sogar gegeißelt wird.
So fühlen sich manche durch die Forderung nach Gleichberechtigung oder Gleichstellung von Homosexuellen in ihrer Lebensform bedroht und beschränkt.
Faktisch jedoch änderte sich durch eine solche Gleichstellung für die Verfechter eines so genannten traditionellen Familienbildes nichts. 
Weder wird es ihnen verboten an ihrem tradierten Bild festzuhalten noch erführen sie tatsächliche Nachteile.

Im Gegenteil liegt für sich fortentwickelnde Gesellschaften in der Selbstverständlichkeit, anderen Freiheit für ihre Lebensentscheidungen zuzugestehen, das Potenzial eben nicht zu stagnieren, Prozesse zu gestalten und anzuerkennen, dass die grundrechtlichen Bestimmungen im Alltäglichen gelebt werden können.

Naturgemäß führen liberale Gesellschaften im Zuge solcher Veränderungen oder des Voranschreitens Diskurse.
Jedoch müssen wir uns im digitalen und "postfaktischen" Zeitalter die Frage gefallen lassen, ob wir verlernt haben, einen Streit oder eine Diskussion ohne sofortige Entgleisung zu führen.

So will es scheinen, als sei das Berufen auf die Freiheit das eine und unwiderlegbare Argument, mit dem sich jede weitere Auseinandersetzung verbietet oder wenigstens für beendet erklärt werden kann.

"Das wird man wohl doch noch sagen dürfen!" ist als verbalisiertes Gefühl untrennbar mit dem Eindruck verbunden, bestimmte Dinge eben nicht sagen zu dürfen, einer Art gesellschaftlicher Zensur zu unterliegen. 
Umso größer die Erleichterung, wenn sich dann endlich entweder ein Anderer traut, die vermeintliche eigene Wahrheit auszusprechen oder unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit eine Hintertür gefunden ist, die ein Entkommen der überbordenden "Political Correctness" plötzlich wieder möglich erscheinen lässt.

Betrachten wir die gelebte Diskussionskultur von außen und mit besonderem Fokus auf die so genannte Anonymität der digitalen Gesellschaft, fällt die Verrohung der Sprache eklatant ins Auge. 

Dem Leser der Kommentarspalten wird auffallen, dass ein übermäßiger Rückgriff auf persönliche Beleidigungen, Einschüchterung, Deklassierung und sogar Diskriminierung stattfindet. 
Im Netz, so das offenbar allgemeine Verständnis, darf eben alles gesagt oder besser geschrieben werden.
Versteckt hinter Fake Profilen oder auch unter dem offen getragenen Klarnamen. 

Nun ist das Internet weder Neuland noch ein rechtsfreier Raum. 
Jüngst hat Heiko Maas einen Gesetzentwurf vorgelegt, der eben dieses Phänomen des geballt entladenden Hasses und der Hetze Einhalt und Seitenbetreiber wie facebook in die Pflicht nehmen soll, für zügige Löschung strafrechtlich relevanter Inhalte zu sorgen. 
Empfindliche Geldstrafen sollen dem Ansinnen Nachdruck verleihen. Ob diese allerdings in der Praxis in den vorgesehenen Maximalhöhen auch verhängt werden, darf wohl berechtigt bezweifelt werden.
Nicht unbegründet steht dieses Gesetz in der Kritik. 
Wer bestimmt, was ein strafrechtlicher Inhalt ist?
Natürlich ist dies gesetzlich festgeschrieben. Wir dürfen jedoch davon ausgehen, dass die in den jeweiligen Unternehmen verantwortlichen Angestellten in den seltensten Fällen eine juristische Ausbildung genossen oder sogar richterliche Qualitäten haben werden.

Unbenommen dessen ist eben nicht jede Äußerung von der Meinungsfreiheit gedeckt.
Straftatbestände wie Beleidigung (§ 185 StGB) oder Volksverhetzung (§ 130 StGB) stellen ganz eindeutige Grenzen dar. 

Die Problematik, der wir uns gegenüber sehen setzt sich also aus verschiedenen Aspekten zusammen.

Das Beharren auf der eigenen Meinung wird in Verbindung mit ihrer Äußerung nicht selten als allgemein gültige und einzige Wahrheit verstanden.
Keine Beachtung schenken die Diskutanten dabei dem Umstand, dass es legitim und durchaus bereichernd ist, überein zu kommen, unterschiedlicher Ansicht zu sein. 
Das Missverständnis, dass eine Debatte zwangsläufig wie zwingend in der Überzeugung des Gegenübers enden muss, mag einen nicht unwesentlichen Anteil an der Gesprächsschärfe haben.
Je aufgeheizter die Gemüter, desto wahrscheinlicher der Verlust der Sachlichkeit. 
Das Gelten lassen einer sich von der eigenen Ansicht unterscheidenden Meinung ist offenbar ähnlich schwer auszuhalten wie das Wahrhaben wollen, dass öffentliche Äußerung eine Aktion darstellt, die in aller Regel eine Reaktion nach sich zieht.

Im Rahmen der Meinungsfreiheit und ihrer Beschränkungen darf man natürlich alles sagen und auf seinem Standpunkt beharren. 
Eine widerstreitende Meinung bedeutet eben nicht, dass die eigene Äußerung keinen Bestand hat oder nicht gesagt werden darf. 
Verstanden oder wieder erlernt werden muss jedoch, wie es scheinen will, dass Meinung sich aus der sie äußernden Person, ihren Erfahrungen, ihrer Einordnung und ihrem Verständnis der Welt und des Geschehens generiert.
Einem anderen dies absprechen zu wollen und nicht gelten zu lassen, ist eine unangemessene Einschränkung einer Freiheit, die in Demokratien zu den unverzichtbaren Säulen des gesellschaftlichen Lebens und nicht zuletzt der politischen Willensbildung zählt.

In freiheitlichen oder demokratischen Gesellschaften spielen die Medien eine besondere Rolle bei der politischen Willensbildung. Artikel 5 GG stellt fest, dass ein jeder das Recht hat, sich ungehindert aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten. Daraus lässt sich eine besondere Verantwortung der Medien, die solche allgemein zugänglichen Quellen darstellen, ableiten.

Wird nun das berichterstattende Augenmerk vornehmlich auf Sachverhalte gelenkt, die Unsicherheit fördern und Angst schüren, so muss die Frage erlaubt sein, ob Medien, die diesen Weg einschlagen, ihrer gesellschaftlichen und nicht zuletzt demokratischen Verantwortung nachkommen.
Die Antwort scheint einfach. 
In der Komplexität, die unsere Welt ausmachen, ist aber kein Platz für simplifizierende Antworten.
Es will erscheinen, als seien die Klicks um jeden Preis die Kosten, die wir für die mit der Digitalisierung einhergehende Schnelllebigkeit zu begleichen haben.
Nehmen wir uns aber nicht ein Stück der eigenen Entscheidungsfreiheit, wälzen wir die Verantwortung auf die Medien oder einige ihrer einschlägigen Vertreter ab?
Was nicht gelesen wird, generiert keinen Werbeeinnahmen.
Wir haben die Freiheit den Diskurs und die Berichterstattung zu gestalten.
Wer sich sachlich recherchiert informieren will, wird kaum auf semi-seriöse Quellen zurück greifen.
Es ist zu bequem sich darauf zu berufen, dass die Verantwortlichkeit bei den Medien liegt.
Sie liegt bei jedem von uns. 
Nun mag man dem entgegenhalten, dass das nicht-lesen bestimmter Zeitungen die eigene Informationsfreiheit einschränkt und am Ende sogar einer gesellschaftlich gemachten Zensur gleichkäme, würden dieses in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.
Der Einwand ist insofern zwar bedenkenswert, aber kaum haltbar. Regionalzeitungen berichten seit jeher von Ereignissen vor Ort. Die Möglichkeit, sich zu informieren würde also nicht beschnitten, fielen wir weniger den reißerischen Schlagzeilen anheim.

Ein weiterer Aspekt, der keinesfalls vernachlässigt werden darf, ist das mangelnde Vertrauen in die Medien.
Mit der Überschrift "postfaktisch" haben wir die nahezu perfekte Ausrede geschaffen, nicht mehr in uns präsentierte Nachrichten zu vertrauen.
Wir dürfen der Emotion mehr Raum geben als den Fakten. Wir müssen weder vertrauen noch glauben.
Zweifellos beeinflusst auch diese Entwicklung, die den Streit zwischen Emotion und Ratio zur Chefsache erklärt, die Kommunikation, die Diskussion und am Ende die Freiheit.

Wie begegnet man innerhalb einer Debatte dem Diskutanten, der für sich entschieden hat, dass Fakten nicht zählen, jegliche Quelle als nicht vertrauenswürdig einzuordnen ist?
Hier sind wiederum nicht nur die Betroffenen, die Journalisten also, gefordert, sondern die Gesamtgesellschaft. 
Denn am Ende steht die Frage, in was für einer Welt wollen wir leben?
Unfrei bestimmt von dem eigenen Gefühl, auf das nicht immer Verlass ist und einzig unter Bezug auf das eigene Ego oder in einer liberalen Gesellschaft, die sich auf ein breites Spektrum von Meinungen, Vielfalt und Streit stützt?

Ob das Vertrauen in die Medien tatsächlich gesunken ist oder nicht, ist eine für sich genommene Streitfrage, zu der es natürlich beide Seiten belegende Studien gibt.
Unerlässlich scheint bereits im Schulunterricht zu vermitteln, wie Journalismus funktioniert und jungen Menschen die Werkzeuge an die Hand zu geben, die Seriosität nach objektiven Maßstäben einzuordnen und festzustellen, wonach sich die Vertrauenswürdigkeit einer Quelle bemessen kann.
Sich in Erinnerung zu rufen, dass es für die Einordnung der eigenen Quellen ratsam ist, jene durch weitere Recherche abzusichern oder zu verifizieren, ist sicher eine wohlgelittene Erkenntnis.

Wollen wir zurückfinden zu einer Diskussionskultur, die ohne Diskreditierung des Gegenübers auskommt, kommen wir nicht umhin uns auch mit der Bedeutung der Sprache auseinander zu setzen.
Zu der Freiheit eine Meinung zu äußern gehört ebenfalls die Freiheit - in den gesetzlichen Grenzen - die Art der Formulierung frei zu wählen.
Bewusst machen müssen wir uns jedoch, dass Worte für sich genommen große Kraft entwickeln und unseren Umgang miteinander bestimmen. 
Verknappung, an die wir uns durch 140-Zeichen Beschränkungen längst gewöhnt haben werden, schaden dem Diskurs ebenso wie Pauschalisierung oder Formulierungen, die zur Entmenschlichung ganzer Gruppen beitragen. 
Auch müssen wir (wieder) lernen, dass ein Bericht über beispielsweise Hungersnöte in Afrika nicht automatisch mit einer Schuldzuweisung einher geht.
Zunächst einmal handelt es sich um eine Information. Wie wir diese Information einordnen und welche Bedeutung wir ihr beimessen, liegt in unserer eigenen Entscheidungsfreiheit.
Ebenso wie es unsere Freiheit ist, zu entscheiden, ob es von Nöten ist, sich zu den berichteten Sachverhalten überhaupt und eben in welcher Form zu äußern.
Die Digitalisierung macht das sich Mitteilen leicht. Kaum vorstellbar, dass die vielen Kommentierenden sich noch vor Jahren die Zeit genommen hätten, einen Leserbrief nach dem anderen zu schreiben. 

Sollten wir uns en gros dafür entscheiden, der kühlen Sachlichkeit mehr Raum zu geben als der Angriffslust, uns bewusst machen, dass Sprache gestalten bedeutet, kann das den Debatten nur zu Gute kommen.

Die Freiheit, und insofern ist Valéry zu widersprechen, ist unbestritten von Bedeutung, aber sicher nicht ohne Sinn. Genauso aber ist ihre Einschränkung sinnvoll.
Denn dürften wir uns ohne Rücksicht über die Bedürfnisse der anderen hinwegsetzen und würden wir nichts weiter als die eigene Individualität anerkennen, verlören liberale Gesellschaften ihre Basis.



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